Der Wilde Mann ist vom frühen Mittelalter bis zum Beginn der Neuzeit im Volksglauben des germanischen und slawischen Sprachraums ein anthropomorphes Wesen. Er wurde als einzelgängerischer, mit Riesenkräften ausgestatteter, stark behaarter, nackter oder nur mit Moos oder Laub bekleideter Urmensch beschrieben oder dargestellt. Seine Lebensweise galt einerseits als halbtierisch und primitiv, andererseits aber auch als paradiesisch und naturverbunden. Für seinen bevorzugten Aufenthaltsort hielt man unbewohnte oder unbewohnbare Wald- und Berggebiete.
Wilde Männer sind eine spezifisch mitteleuropäische Ausformung einer weltweit in allen Kulturen vorkommenden mythischen oder abergläubischen Vorstellung von halbmenschlichen Waldbewohnern. Diese Wesen erscheinen zuerst als Wildleute (mittellateinisch silvani) oder Wildes Volk, später personifiziert als Wilder Mann und Wilde Frau oder auch als Wildes Fräulein:
„Die verschiedenen Auffassungen von Wald- und Wildmännern, die aus dem Brauchtum und der Literatur erwachsen sind, haben sich in der bildenden Kunst zu der Darstellung eines wilden, behaarten, oft mit Lendenschurz bekleideten Menschen verdichtet. Diese Wesen, die in der wörtlichen Übersetzung das Wilde veranschaulichen, schließen sämtliche Versionen dieser Sagengestalten in sich. Diese Charakterisierung bleibt durch alle Stilepochen hindurch bestehen.“[1]
In den Texten und Darstellungen kommt dem Wilden Mann oft eine metaphorische Bedeutung zu. Er steht für das Wilde, die bedrohliche Natur, für die überwundene Natur, für überkommene kulturelle Entwicklungsstufen des Menschen und für bestimmte, als urtümlich empfundene charakterliche Merkmale von Männern. Der Wilde Mann wird im Mittelalter von einem Mythos des Volksglaubens, einem Archetypus des Chaos, zu einem Symbol für erstrebenswerte Charaktereigenschaften in den Geschichten der gesellschaftlichen Oberschicht.